"Ein Eindruck überwältigender Fülle": Claudia Heinemann blickt zurück
Im September 2024 wurde Pfarrerin Claudia Heinemann in einem Gottesdienst in Bonn verabschiedet und von Kirchenrätin Eva Bernhardt entpflichtet. Ist der Übergang in den Ruhestand eine besondere Herausforderung für sie als eine Frau in einem helfenden Beruf? Nein, sagt Claudia Heinemann.
Aber "so richtig angekommen im Ruhestand bin ich noch nicht. Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass ich mich schon für neue Vorhaben und Projekte entschieden hätte und dass sich ein neuer Lebensrhythmus eingestellt hätte. Ich empfinde die Zeit jetzt als eine Art Übergangszeit. Ich habe da das Bild der Brache im Kopf. So wie bestellte Felder nach einer Zeit intensiver Bewirtschaftung eine Ruhephase brauchen, bevor wieder Neues ausgesät wird, so habe ich ein starkes Bedürfnis, die intensive Zeit hinter mir erstmal zur Ruhe kommen zu lassen. Sacken lassen, ausklingen lassen, die Erlebnisse sich-sortieren-lassen.
Ich habe die Berufstätigkeit oft so erlebt, dass ein Ereignis das nächste gejagt hat. Wo ich innerlich noch mit dem einen beschäftigt war, kam schon das nächste und das übernächste; dazu gab es ja auch noch die privaten Dinge, die auch ihr Recht forderten. Dass ich jetzt in der Situation bin, die Aufgaben in meinem Leben mit so viel Zeit anzugehen, wie es mir angemessen erscheint, und dass ich die Erlebnisse nicht gleich wieder mit dem nächsten überlagern muss, das genieße ich sehr. Natürlich geht auch etwas verloren: es war ja ausgesprochen anregend und spannend, mit der Polizei zusammen zu leben und zu arbeiten. Im Gegenzug gewinne ich aber eine große Entspannung und die Möglichkeit zu größerer Intensität. Das ist wunderbar.
Wie lange waren Sie Polizeiseelsorgerin? Und wo?
Was haben Sie davor gemacht?
Ich war 14 einhalb Jahre Polizeiseelsorgerin. Mein Zuständigkeitsbereich waren die beiden Polizeipräsidien Bonn und Aachen, dazu die Kreispolizeibehörden Euskirchen, Düren und Aachen. Der Schwerpunkt meiner Arbeit war aber -je länger, je mehr- die Bonner Polizei. In den anderen Behörden habe ich eher projektbezogen gearbeitet. Und ich war auch dort natürlich jederzeit erreichbar und ansprechbar für seelsorgliche Anliegen.
Vor der Zeit als Polizeiseelsorgerin war ich Gemeindepfarrerin. Zuerst im Bonner Bereich (im Vorgebirge und danach in Beuel), später viele Jahre in Düsseldorf.
Wenn Sie auf die Zeit bei der Polizeiseelsorge zurückblicken: Was waren die für Sie wichtigsten Erfahrungen, die nachwirken?
Was ich mitnehme aus dieser Zeit ist ein Eindruck überwältigender Fülle. Es ist so viel passiert in diesen 14 einhalb Jahren! Ich habe sofort jede Menge Gesichter von Polizisten und Polizistinnen vor Augen: lachende beim Frotzeln auf der Wache, konzentrierte vor dem Monitor oder am Tat- oder Unfallort, angespannte in kritischen Situationen, erschütterte nach dramatischen Ereignissen. Und mir fallen Orte und Szenen ein: der Petersberg bei der Afghanistankonferenz in Bonn, die Geisterdörfer an der Tagebauabbruchkante, die Krawallszenen beim G7-Gipfel in Hamburg, das Ahrtal nach der Flut… aber auch ganz normale polizeiliche Besprechungsräume, das Kloster auf der Insel Nonnenwerth, in dem ich spirituelle Auszeitseminare durchgeführt habe und das Büro der Polizeiseelsorge im Polizeipräsidium Bonn, in dem so viele Gespräche stattgefunden haben.
Ich könnte nicht sagen, was davon das Wichtigste oder ganz besonders wichtig war. Aber besonders genossen habe ich das Privileg, an so vielen Stellen hinter die Kulissen blicken zu dürfen, gesellschaftlich brisante Entwicklungen wirklich von Nahem mitzuerleben und meinen eigenen Horizont erheblich weiten zu können. Und ich bin sehr, sehr dankbar für das Vertrauen, das mir immer wieder als Seelsorgerin entgegengebracht worden ist. Eine ganze Reihe von Begleitungen waren für mich zutiefst bewegend und sind mir unvergesslich.
Als Belastung habe ich den riesigen Zuständigkeitsbereich erlebt, der ja gar nicht sinnvoll komplett „abgedeckt“ werden kann – schon gar nicht mit einer halben Stelle Dienstumfang. Hier habe ich einige Zeit gebraucht, bis ich mir meine Arbeit so strukturiert hatte, dass sie bewältigbar war und bis ich mit der Tatsache einigermaßen Frieden geschlossen hatte, dass vieles schlicht nicht machbar war, was ich eigentlich wichtig gefunden hätte.
Ein weiterer „Stressor“ war das Bereitschaftshandy, das ich ja die ganze Zeit mit nur wenigen Auszeiten dabeihatte. Eine der schönsten Seiten des Ruhestandes ist es, abends ins Bett zu gehen, ohne dass da ein Handy auf dem Nachttischchen liegt…
Was hat Ihnen die Zusammenarbeit mit PolizistInnen gegeben? Oder: Was hat Sie überrascht?
Wir haben unheimlich viel miteinander gelacht. Das spricht ja eigentlich schon für sich. Und damit hatte ich auch nicht wirklich gerechnet. Bevor ich zur Polizei kam, hatte ich die Beamtinnen und Beamten eher als sehr sachliche Personen erlebt, mit einer gewissen Strenge in der Ausstrahlung, oft auch ein wenig steif und einander in gewisser Weise ähnlich – sozusagen nicht nur äußerlich uniformiert. In keinster Weise hatte ich das bunte Völkchen erwartet, das ich dann erleben durfte. Es gibt ja wirklich viele markante Persönlichkeiten in der Polizei und eine große individuelle Bandbreite an Lebenseinstellungen, Kommunikationsformen usw. Und „sachlich-steif“ sind mir die allerwenigsten entgegengetreten. Eher interessiert, offen und meinungsfreudig, gelegentlich provokativ, meist wohlmeinend. Mir haben diese Kontakte viel bedeutet. In mancher inhaltlichen Auseinandersetzung war ich gezwungen, meine Sichtweise überzeugend auf den Punkt zu bringen, was meiner eigenen inneren Klarheit gutgetan hat. Ähnliches gilt für die Frage, in welcher Form mein Glaube und Spiritualität in der Polizei vorkommen können. Nicht zuletzt aber war es wirklich beglückend, wieviel Herzlichkeit sich im Miteinander über die Jahre mit vielen Menschen in der Polizei entwickelt hat.
Was möchten Sie der Polizei und Ihren KollegInnen bei der Seelsorge mitgeben für die Zukunft?
Die Polizei muss ja aktuell mit einer Situation umgehen, in der die gesellschaftlichen Probleme immer komplexer und die Krisen immer zahlreicher werden. Das ist eine enorme Herausforderung. Wenn ich auf den einzelnen Menschen gucke, der diese Arbeit ja trägt, dann halte ich es in dieser unübersichtlichen Lage für sehr wichtig, dass der und die einzelne einen inneren Halt hat, sich Stärkung und Unterstützung sucht, den Sinn des eigenen Tuns nicht aus dem Blick verliert, eine Klarheit hat, wofür er oder sie steht und auch, wo die eigenen Grenzen sind. Theologisch gesagt: die eigene Seele wichtig nimmt. In Blick auf meine Kolleginnen und Kollegen in der Polizeiseelsorge, die ja -sozusagen über Bande- in dergleichen Lage sind, gilt das genauso.
Beiden, in Polizei und Polizeiseelsorge, wünsche ich von Herzen Gottes Segen für die Zukunft.